Hi, mein Name ist Vivian, ich bin 22 Jahre alt und ich wohne und arbeite zur Zeit als Freiwillige über den "europäischen Solidaritätskorps" in Paris, oder besser gesagt daneben, aber dazu komme ich später noch.
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Ich habe vor gut einem Jahr, im Frühjahr 2021 meinen Bachelor in Public Relations an der Hochschule Hannover abgeschlossen und mich danach fleißig bei meinem Traumarbeitgeber beworben, den Vereinten Nationen. Mitte Juni 2021 fing ich dann ein sechs-monatiges Praktikum bei UN Peacekeeping an, das ich zur Hälfte in New York absolvierte. Das war natürlich eine krasse Erfahrung, die mich aber vor allem eines lehrte: zu sagen, man könne sieben Sprachen sprechen ist ja schön und gut, aber solange man diese Sprachen nicht fließend spricht, sind sie in der Welt der internationalen Organisationen wenig wert.
Deshalb machte ich es mir nach diesem Praktikum, das im Dezember 2021 endete, zur Aufgabe, mein B2 Schulfranzösisch aufzupolieren und die Zeit bis September und dem Beginn meines Masterstudiums für einen Freiwilligendienst im französisch-sprachigen Ausland zu nutzen. Eigentlich wollte ich unbedingt in ein west- oder zentralafrikanisches Land, dort gibt es viele Länder, in denen eine der Amtssprachen Französisch ist, Kamerun, Togo, Mali …
Aber nachdem ich mich im Januar für eine Ausreise ab Februar bewarb, war da nicht viel zu machen, für die meisten FSJ Weltwärts Programme muss man sich ein Jahr im Voraus bewerben.
Glücklicherweise landete eine meiner Bewerbungsemails bei Visioneers, wo man mich auf die Möglichkeit eines Freiwilligendienstes über den europäischen Solidaritätskorps (ESK) aufmerksam machte. Mit den ESK-Projekten kann man als junge*r Europäer*in in einem EU-Land (so wie drei oder vier Anderen) einen Freiwilligendienst zwischen einem und 12 Monaten absolvieren. Ein Projekt zu finden fällt dabei extrem leicht, die Seite des ESK-Programmes ist gut gemacht, man kann ganz einfach Projekte nach Ländern und Einsatzzeitraum filtern.
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Mitte Januar hatte ich ein Vorstellungsgespräch für eine Mittel- und eine Berufsschule in den Vororten (Banlieues) von Paris. Die Organisation, die die Schulen betreut heißt „Apprentis d’Auteuil“, erst später, nachdem ich schon fast einen Monat in Frankreich bin, erfahre ich, dass die Organisation eine der größten Kindeswohlorganisationen Frankreichs ist. 6.000 Mitarbeitende arbeiten im ganzen Land in Schulen, Kinderheimen oder Büros mit internationalen Partnern zusammen daran, Kindern eine bestmögliche Ausbildung und ein bestmögliches Kind-Sein zu ermöglichen. Die Menschen, die mich damals interviewen, mein zukünftiger Tutor und die beiden Chefs der jeweiligen Schulen, wirkten extrem nett und die Beschreibung des Projekts klang sehr spannend. Ich sollte den Schüler*innen der beiden Schulen Themen der internationalen Solidarität und der internationalen Bürgerschaft (auf Englisch „citizenship“, französisch „citoyenneté“) näher bringen - Themen wie Frauenrechte, Geschlechtergerechtigkeit, Umwelt- & Klimaschutz, Recycling, bewusster Konsum etc. etc. Das Projekt war perfekt für mich, in Brasilien geboren, mit vier nach Deutschland gezogen, dort in vier verschieden Städten und drei Bundesländern gelebt, Auslandspraktikum in Brasilien absolviert, nach dem Studium nach New York gegangen, viel gereist - ich fühle mich durch und durch als Weltbürgerin und die Themen, die mit einer globalisierten Realität, in der unsere Jeans aus Südostasien und die Ananas aus Zentralamerika kommt, in der unsere Altkleider Tonnenweise nach Zentralafrika verschifft werden und unser Müll nach Südostasien, zusammenhängen, diese Themen sind mir ungemein wichtig und bestimmen mein alltägliches Leben. Glücklicherweise empfanden mich meine zukünftigen Chefs auch als guten Fit für die Stelle, und so war Ende Januar entschieden, dass ich ab Mitte Februar nach Paris ziehen würde, oder besser gesagt in die Nähe davon.
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An einem Sonntagnachmittag, dem 13. Februar, um 16 Uhr komme ich in Paris an, die Direktorin der beiden Schulen und mein zukünftiger Tutor holen mich mit einem Auto ab und zeigen mir sogar noch ein bisschen Paris. Ich sehe diese Hauptstadt zum ersten Mal und bin glücklicherweise ganz ohne Erwartungen angereist - und daher vollkommen überwältigt von der Schönheit der Wohnhäuser und der Masse an historischen Gebäuden in jedem Viertel von Paris. Natürlich ist es immer noch eine Metropole, Arm trifft Reich, Menschen leben auf der Straße, Tourist*innen und Einwohner*innen hinterlassen ihre Spuren auf den Straßen, Müll, Klamotten, kaputte Möbel, Ratten. Aber das ist eine Realität, mit der fast jede Hauptstadt der Welt zu kämpfen hat, besonders nach New York konnte mich da wenig schocken. Also ja, Paris ist meines Erachtens nach wunderschön.
Am nächsten Tag lerne ich meinen zukünftigen Arbeitsplatz kennen. Am Morgen fahren wir auf ein Gelände, dessen Größe ich bei der Ankunft nur erahnen kann. Das Bild wird von Grünflächen dominiert, relativ groß sogar, Wiesen, perfekt gepflegt und von Häusern oder Straßen eingerahmt. Um die Landschaft kümmern sich die Schüler*innen der Garten- und Landschaftsbauberufsschule, die sich auch auf dem Gelände befindet. Und das sieht man, oft sind die Grünflächen mit perfekten Reihen von Blumen bepflanzt, Hecken sind in perfekte geometrische Formen gestutzt. Aber gleichzeitig gibt es auch große, ungestutzte Bäume, die dem ganzen die Strickt- und Eckigkeit nehmen. Das Gelände ist also ziemlich grün und ziemlich schön. Vorbei an der Kantine, einem der beiden Internate für das Collège, zwei Bürohäusern und einem Fußballfeld, geht es zu den Gebäuden, in denen ich hauptsächlich arbeiten werde, dem Collège und dem Lycée Pro, der Berufsschule. Die beiden sind miteinander verbunden, mit einem Gebäude, in dem alle Klassenräume sind, die Schüler der verschiedenen Schulen begegnen sich jedoch nicht, die Eingänge wurden extra so gelegt, dass das vermieden wird. Neben dem Gebäude mit den Klassenräumen und den Büros für die Administration liegt eine Art Fabrikhalle, dort sind die Ateliers für die Klassen der Berufsschule untergebracht. An der Berufsschule werden zukünftige Schreiner*innen, Künstler*innen (die sich auf das Designen von Schaufenstern spezialisiert haben) und Verkäufer*innen unterrichtet.
Am Mittag wird mir die Wohnung gezeigt, in der ich fünf Monate lang leben werde. Sie liegt auf dem 19 Hektar großen Gelände, im Erdgeschoss einer der Häuser in denen das Kinderheim situiert ist. Die Wohnung ist gigantisch, ein riesiges Wohnzimmer, ein gigantischer Flur, in dem drei Leute (meine Mitbewohner*innen und ich) gleichzeitig Sport machen können; eine große Küche, Dusche und Toilette getrennt. Mein Zimmer dagegen hat 15 Quadratmeter, aber es passt alles rein, ein Einbauschrank, ein Bett, ein Schreibtisch. Und die restliche Wohnung bietet ja genug Raum um sich mit einem Buch aufs Sofa zu setzen oder mit den Mitbewohner*innen in der Küche oder im Wohnzimmer zu quatschen. Miete muss ich keine zahlen, das ist Teil der Kosten, die von der EU und meiner Organisation zusammen gestemmt werden. Außerdem kriege ich Geld um mir Lebensmittel zu kaufen und zusätzlich noch ein Taschengeld. Es wird also ziemlich gut für einen gesorgt.
In meinen ersten Wochen konzentriere ich mich vor allem auf meinen Französischkurs, um besser mit den Menschen kommunizieren zu können (in meiner Arbeit spricht niemand außer den Englischlehrer*innen Englisch) und fange nebenbei an, bei den Englischkursen des Collège und Lycée Pros auszuhelfen. Ich setze mich mit in den Unterricht und wenn es Aufgaben zu erledigen gibt, gehe ich mit durch die Reihen der Schüler*innen und helfe ihnen die Aufgaben zu bearbeiten. Beide Schulen, die Berufs- als auch die Mittelschule sind extra auf Schüler*innen mit Schwierigkeiten ausgelegt, die Jugendlichen haben schulische, familiäre und soziale Probleme. Und das merkt man im Unterricht, ich bin ehrlich geschockt als ich das erste Mal eine Stunde miterlebe. Die Schüler*innen reden ununterbrochen miteinander, schreien, laufen herum, verrücken Stühle und Tische. Am Ende der Unterrichtsstunde bricht eine Schlägerei aus. Ich war inmitten Münchens auf einem sprachlichen Gymnasium, zwar keines in dem wirklich ausschließlich die Kinder reicher, Münchner Eltern unterrichtet wurden, trotzdem war es ein Gymnasium, in Deutschland. Man erklärt mir, dass es in einer französischen Schule sowieso schon anders hergeht als in einer Deutschen, die Schüler*innen bleiben nicht sitzen, sind selten still. Das bedeutet natürlich aber, dass der Unterschied zwischen meinem deutschen Gymnasium und einer französischen Schule für Jugendliche mit Schwierigkeiten, enorm ist. Dass ich so geschockt bin überrascht mich selbst, seit ich 14 bin arbeite ich als ehrenamtliche Jugendleiterin und ich hatte mich als weltoffen und realitätsnah eingestuft. Aber ist doch auch schön, wenn man eben nicht schon alles kennt. Die Schüler*innen sind sehr nett zu mir, zwar nicht immer respektvoll aber man merkt, dass sie einen mögen wenn man ihnen auf dem Schulgelände begegnet, und sie einem ein breites Grinsen und ein „Hello, Teacher!“ zuwerfen.
Am meisten Spaß bereitet es mir jedoch eigene Englischkurse zu geben. Diese Möglichkeit habe ich dank der Initiative PROPULSE. Hier erhalten junge Erwachsene, die aus der Schule raus sind, Bewerbungstraining. Viele der Teilnehmer*innen meiner Kurse sind Geflüchtete und einige von ihnen lernen gerade erst Französisch. Das ist zwar herausfordernd, aber es bereitet mir enorme Freude die Unterrichtsstunden an die Bedürfnisse meiner Teilnehmer*innen anzupassen und Menschen zu unterrichten, die Freude am Unterricht haben. Denn anders als die Schüler*innen der Mittel- und Berufsschule haben die PROPULSE Teilnehmer*innen sich aktiv für meinen Kurs entscheiden und geben sich dementsprechend Mühe, das ist eine nette Abwechslung zu den Jugendlichen, die oft nicht einmal Papier und Stift in den Unterricht mitbringen.
Inzwischen habe ich auch angefangen Seminare für die Schüler*innen der Berufsschule zu geben, die im Internat untergebracht sind. Ich bereite für die 15- bis 20-Jährigen einstündige Interventionen für den Nachmittag vor, bisher habe ich zwei Englischseminare und ein Seminar über die Möglichkeiten, die die EU jungen Bürger*innen bietet (CES, Erasmus+, Discover EU etc.), gegeben.
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Tja und am Wochenende fahre ich mit einem Bus und einer S-Bahn, 45 min dauert das, ins Zentrum von Paris. So nah an Paris zu wohnen ist natürlich der Hammer. Da Paris eine millionenschwere Hauptstadt ist, gibt es hier eigentlich jedes Wochenende etwas zu erleben - und das meistens umsonst. Straßenfeste, Vernissagen, Konzerte, die Möglichkeiten scheinen fast endlos. Nachdem ich die ersten Wochenenden mit viel Sightseeing verbracht habe, verbringe ich meine Zeit jetzt meistens mit meinen Freunden in Parks, an der Seine, am Kanal oder in Bars. Ich habe durch die seltsamsten Situationen ein paar sehr gute Freunde gefunden, alles Franzosen, viele davon Pariser. Das freut mich ungemein, weil ich das Gefühl habe, die Stadt dadurch besser kennenzulernen, als wenn ich nicht auf die Tipps meiner Freunde vertrauen könnte. Als Techno-Fan wird man in Paris auch fündig, die Techno-Szene ist enorm groß, aber auf jeden Fall anders als in Deutschland. Man muss also meistens bereit sein relativ viel Geld zu investieren für eine Nacht unterwegs, wird aber häufig mit sehr coolen Events belohnt.
Aber Paris gehört eben auch zu einer der zehn Touristen-reichsten Städte der Welt. Das vergisst man selten, da die Stadt in allen Vierteln Unglaubliches zu bieten hat, gibt es kaum Orte ohne Tourist*innen. Und in der Nähe der Hauptattraktionen kämpft man sich eigentlich immer durch einen unendlichen Strom. Vergessen kann man diese Momente nur wenn man sich in den Weiten der beiden Pariser Riesen-Parks „Boite de Vincennes“ und ,,Boite de Bologne“ verliert, oder Insider-Tipps, wie den ,,Rooftop-Park" im Pariser Süden aufsucht.
Das war’s erstmal, diese zwei Seiten fassen meine ersten drei Monate hier ganz gut zusammen! Ich melde mich dann nochmal gegen Ende, wahrscheinlich schon deutlich trauriger gestimmt, weil ich die Stadt der Liebe bald verlassen muss.
Bis dahin!
Vivian
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